Meinung: Die Balearenregierung konnte die derzeitige Ansteckungswelle nur „falsch“ handhaben. Ein Blick auf die Restriktionen aus dem Winter zeigt, warum das so ist.
Zugegeben: Auch wir meckern gerne mal über so manch eine Entscheidung der Politik. Gerade in Corona-Zeiten lässt man sich des öfteren dazu hinreissen. Allerdings müssen wir auch zugeben: Wir sind froh, diese Entscheidungen nicht selber treffen zu müssen!
Ein Blick auf die derzeitige Corona-Situation der Balearen macht schnell klar, in welcher Zwickmühle sich die Balearenregierung derzeit befindet. Die Zahl der täglichen Neuansteckungen schießt ungebremst durch die Decke. Wir haben am Donnerstag und Freitag jeweils einen neuen Rekord aufgestellt. Einen „Schuldigen“ dafür auszumachen und somit gezielte Maßnahmen zu ergreifen, ist quasi unmöglich.
Klar, man könnte jetzt sagen, dass die Ballermann-Urlauber schuld sind, die seit dem Ende der nächtlichen Ausgangssperre jede Nacht in großen Gruppen auf der Strandmauer feiern. Allerdings sitzen nicht tausende von ihnen im Corona-Hotel fest.
Auch den spanischen Schülern vom Festland könnte man schnell die Schuld geben. Mehr als 2.000 von ihnen wurden nach ihrer Party auf Mallorca positiv getestet. Aber die sind nun schon eine Weile weg und 2.000 Fälle schaffen wir hier aktuell in drei Tagen.
Dann gäbe es da noch die „Delta-Briten“, wie sie die BILD so schön nannte. Aber die durften erst auf die Insel, als die Zahlen hier schon den Turbo gezündet hatten.
Die derzeitigen „Lieblings-Schuldigen“, im spanischsprachigen Teil der sozialen Medien, sind die Jugendlichen hier auf der Insel. Wochenende für Wochenende treffen sie sich nachts in den Industriegebieten zu „botellones“ – zu Deutsch: Saufgelagen. Auch das wäre allerdings zu einfach. Alleine in der laufenden Woche wurden knapp 4.000 Neuansteckungen auf den Balearen gemeldet. Das sind mehr Fälle, als Menschen bei den nächtlichen Partys in den Industriegebieten waren.
Nein, es gibt nicht DEN Schuldigen für das, was hier aktuell geschieht. Das Infektionsgeschehen ist einfach völlig außer Kontrolle geraten. Und das in einem Tempo, welches so niemand absehen konnte. Rechtzeitig richtig auf den Anstieg der Zahlen zu reagieren? Vermutlich unmöglich.
Am 18. Juni lag die Sieben-Tage-Inzidenz der Balearen noch bei 20 Neuansteckungen pro 100.000 Einwohnern in einer Woche. Alles war bestens und man träumte von der tollen Saison, die man haben wird. Von da an ging es allerdings stark aufwärts, denn nur eine Woche später, hatte sich der Wert schon mehr als verdoppelt und lag bei 42. Eine weitere Woche später, lag die Inzidenz bei 140 und hat sich somit in nur zwei Wochen versiebenfacht!
Wieder eine Woche später gab das balearische Gesundheitsministerium bei der Sieben-Tage-Inzidenz einen Wert von 258 an. Und gestern? Also genau vier Wochen nach der 20er-Inzidenz? Man weiß es nicht so genau. In einer Woche sollten wir mit den Nachmeldungen durch sein und wissen, welche Inzidenz wir gestern hatten. Der Cercle d’Economia de Mallorca gibt auf seiner Corona-Ampel eine Inzidenz von 363 an. Das scheint nach den Rekordwerten der letzten Tage jedenfalls um einiges realistischer, als die 270 des Gesundheitsministeriums.
Wie soll man auf so einen Ausbruch reagieren?
Mal ehrlich… Wie hätte die Balearenregierung darauf reagieren sollen? Welche Maßnahmen wären angemessen gewesen, um eine so extreme Ausbreitung zu verhindern? Erinnern wir uns an die letzte Welle aus dem Winter, bei der noch nicht einmal die britische Mutation eine Rolle spielte. Damals hatten wir um den 10. Januar herum den Höhepunkt der Welle erreicht, mit Rekordwerten bei den Neuansteckungen, die wir nun schon hinter uns gelassen haben. Bereits einen Monat vorher griff man ganz tief in die Maßnahmen-Kiste.
Private Treffen waren bereits vor Dezember auf sechs Personen beschränkt und die nächtliche Ausgangssperre galt auch schon. Am 10. Dezember wurde die nächtliche Ausgangssperre dann auf 22 bis 6 Uhr ausgeweitet, am 15. Dezember wurden die Innenräume der Gastronomie geschlossen und die Öffnungszeiten massiv beschränkt (an Wochenenden nur bis 18 Uhr). Auch die maximale Kundenzahl in Einkaufszentren wurde deutlich beschnitten. Am 12. Januar sind Bars und Restaurants, Fitnessstudios, Shoppingcenter, sowie Geschäfte mit einer Fläche von mehr als 700 Quadratmetern komplett geschlossen worden.
Ende Januar sank die Zahl der Neuansteckungen dann endlich ab. Am 21. Januar lag die Sieben-Tage-Inzidenz noch bei 365. Einen Monat später, also am 21. Februar, fiel sie erstmals unter die kritische Marke von 50 – auf 49, um genau zu sein.
An dieser Stelle sei noch einmal daran erinnert, dass wir bei diesen Zahlen vom „alten Coronavirus“ reden. Die britische Mutation fand erst im Februar langsam ihren Weg auf die Balearen. Im Januar konnte man die Fälle noch einzeln abzählen, im Februar machten sie dann 15% der Neuansteckungen aus. Heute haben wir es mit der nochmal ansteckenderen Delta-Variante zu tun.
Lange Rede, kurzer Sinn: Vorsichtige Verschärfungen der Corona-Regeln, wären komplett verpufft. Entsprechende Maßnahmen, die die aktuelle Welle tatsächlich aufhalten hätten können, hätten die anlaufende Tourismussaison im Keim erstickt. Das man dies nicht getan hat, als die Inzidenz von 20 auf 42 stieg, ist nachvollziehbar. Zumal wir alle davon ausgingen, dass die Abschlussfahrten ihren Teil dazu beigetragen haben und sich alles schnell wieder beruhigt. Die Mallorquiner hätten Ministerpräsidentin Armengol vermutlich mit Fackeln und Mistgabeln von der Insel gejagt, hätte sie gleich wieder die schweren Geschütze ausgepackt und sämtliche Urlauber verschreckt. Und nur wenige Tage danach war es ja auch schon zu spät…
Die Balearenregierung war also in der Zwickmühle. Entweder man vergrault sämtliche Urlauber mit Hammer-Restriktionen, oder man wartet, bis alle Länder einen wieder zum Risikogebiet erklären. Wischiwaschi-Maßnahmen konnte man sich schenken.
Nun blieb also nichts anderes mehr, als sich Boris Johnsons Wörterbuch auszuleihen. Und das tat man auch… „Es ist Zeit auf andere Dinge als Inzidenzwerte zu achten“, machte Armengol die neue Linie der Balearenregierung kürzlich klar. „In den Krankenhäusern ist alles entspannt“, wiederholen unterschiedliche Verantwortliche immer wieder. Ob sie damit recht behalten?
Klar, die Risikogruppen sind geimpft und Todesfälle gibt es kaum noch. Aber bei der Masse der Fallzahlen, könnten sich über kurz oder lang „die Ausnahmen“ häufen, die trotz ihres jungen Alters und ohne vorerkrankt zu sein auf den Intensivstationen landen. Wir wollen es nicht hoffen, jedoch zeichnet sich dieses Szenario langsam ab. Am 12. Juli hatten wir noch 20 Patienten auf den Intensivstationen. Gestern waren es bereits 30. Das sind jetzt die Patienten aus der Zeit, als wir täglich um die 300 Fälle hatten. Nun sind wir bei täglich um die 800 Fälle angekommen. In zwei Wochen sind wir schlauer.
Die Krankenhäuser auf den Balearen bereiten sich jedenfalls schon mal vor. Ärzte und Pfleger sollen ihren Sommerurlaub absagen, da man davon ausgeht, dass das Infektionsgeschehen sich bald wieder auf den Intensivstationen bemerkbar macht. Auch die Gesundheitsexperten schlagen Alarm und weisen darauf hin, dass der Anstieg der Fallzahlen nicht von alleine wieder abflacht, sondern, Überraschung, weiter steigen wird.
Dass ausgerechnet Großbritannien nun wieder eine Quarantäne für Balearen-Rückkehrer anordnet, nimmt man ebenfalls mit einer beinahe schon absurd anmutenden Gelassenheit hin. Geimpfte Briten und Kinder unter 18 dürften schließlich wieder frei Reisen, ohne bei Rückkehr in Quarantäne zu müssen. „Mehr als 35 Millionen Briten können mit dem vollständigen Impfschutz reisen. Daher werden wir geimpfte Personen und Familienreisen erhalten“, sagte der Tourismusminister Iago Negueruela. Und nun wird es kurios! Man versucht sogar etwas Positives aus der Situation zu ziehen. So erwähnt Negueruela, dass genau dies ja die Art von Tourismus sei, die man auf den Balearen wolle! Wie darf man das nun verstehen? Inzidenz sei Dank, dürfen die jungen (und somit größtenteils noch nicht geimpften) Partyurlauber nicht mehr nach Magaluf? Nein, man kauft ihm das nicht ab…
Was aktuell auf den Balearen geschieht, sieht nach absoluter Hilflosigkeit aus. Den ganzen Winter und Frühling über hat man an einschneidenden Restriktionen festgehalten. Man hat sogar die nächtliche Ausgangssperre aufrechterhalten, als der Alarmzustand endete. Sie flog einem quasi mit Ansage vor Gericht um die Ohren. Das alles immer wieder mit der Begründung, dass die Sommersaison gerettet werden müsse.
Auf den Ausbruch bei den Abschlussfeiern vor einigen Wochen, reagierte man noch mit drastischen Worten. Man wolle sich nicht von einigen Wenigen die hart erkämpften Ergebnisse kaputtmachen lassen. Und jetzt soll das alles nicht mehr gelten? Nein, das glaube ich persönlich nicht! Mein Eindruck ist viel eher, dass man eiskalt von Delta überrascht wurde und nun einfach aufgegeben hat. So lange es noch geht, nimmt man eben alles mit. Danach muss man zusehen, ob die geimpften Urlauber für eine restliche Saison reichen.
Über wirksame Maßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens, scheint man jedenfalls weiterhin nicht nachzudenken. In der kommenden Woche soll wohl darüber geredet werden, ob der Verzehr von Speisen und Getränken an der Theke eines Lokals wieder verboten werden soll und ob die Sperrstunde ein wenig vorverlegt wird. Auch bei der maximalen Zahl der Gäste pro Tisch könnte wieder etwas gedreht werden. Wie der große Coup klingt das jedenfalls nicht… Aber es schränkt die geimpften Familienurlauber halt auch nicht ein. Und da das RKI nächsten Freitag erneut darüber entscheiden wird, ob die Balearen zum Hochinzidenzgebiet werden (was wir in der Theorie schon sind), muss man sich vermutlich nur noch um eben jene Gedanken machen. Ob die allerdings mit ihren ungeimpften Kindern in einer Region Urlaub machen wollen, in der die Inzidenz dann vermutlich für zwei Hochinzidenzgebiete ausreicht?