#allesdichtmachen – Haben wir verlernt, was Kritik ist?

23 Apr, 2021
Ein Artikel von: Kenny Deppe

Etwa 50 Schauspieler werden nach ihrer Kritik an den Corona-Maßnahmen in die Querdenker-Ecke gedrängt. Diskussionskultur? Die kommt unter die Räder.

Gestern Abend veröffentlichten etwa 50 deutsche Schauspieler eine Reihe kurzer Videoclips unter dem Hashtag #allesdichtmachen. Darunter auch namhafte Größen wie Jan Josef Liefers, Heike Makatsch, Ulrich Tukur, Wotan Wilke Möhring, Ulrike Folkerts, Meret Becker und Richy Müller. Die hier genannten sind im Übrigen allesamt Kommissare der Tatort-Reihe in der ARD. Man könnte das, was heute in den sozialen Netzwerken und deutschen Medien geschieht, also auch gut unter der Überschrift „Tatort Deutschland“ zusammenfassen. Das Opfer im aktuellen Fall: die Diskussionskultur. Der Mörder: wir alle! Aber fangen wir die Geschichte nicht von hinten an…

In den vor Ironie nur so triefenden Videos kritisieren die Schauspieler den Dauer-Lockdown in Deutschland, das Verhalten der Medien und den Umgang mit kritischen Meinungen zu den immer neuen Corona-Restriktionen.
Jan Josef Liefers etwa, richtet seinen Dank an die Medien. „Danke an alle Medien unseres Landes, die seit über einem Jahr unermüdlich, verantwortungsvoll und mit klarer Haltung dafür sorgen, dass der Alarm genau da bleibt, wo er hingehört: nämlich ganz, ganz oben. Und dafür sorgen, dass kein unnötiger, kritischer Disput uns ablenken kann, von der Zustimmung zu den sinnvollen und immer angemessenen Maßnahmen unserer Regierung.“

Weiter verlangt er, dass wir „menschenverachtenden Wissenschaftlern“, die zu anderen Schlüssen kommen als die Berater der Bundesregierung und sich mit Nobelpreisen „tarnen“, keine Bühne bieten dürfen. „Schließlich wissen nur ganz wenige Spezialisten, was gut für uns ist“, so Liefers. Das Video beendet er mit: „Wir sollten einfach nur allem zustimmen und tun, was man uns sagt. Nur so kommen wir gut durch die Pandemie. Bleiben Sie gesund! Verzweifeln sie ruhig, aber zweifeln Sie nicht.“

Puh! Das möchte erst einmal verarbeitet werden. Dass Jan Josef Liefers und seine Schauspiel-Kollegen damit zu den neuen Lichtgestalten der AFD und Querdenker aufgestiegen sind, sollte sie wenig überraschen. Aber… Machen wir es uns nicht zu leicht damit, sie allesamt sofort in diese Ecke zu drängen? Ohne auch nur darüber nachzudenken, was genau wir da gehört und gesehen haben?

Eines stimmt: Die Kritik ist reichlich plump. Als Regierung kann man die Pandemie derzeit nur schlecht, oder noch schlechter als alle anderen managen. Doch ein Blick auf Mallorca zeigt, dass die Kritik an sich nicht grundlegend verkehrt ist. Die Inzidenz schießt nicht automatisch durch die Decke, nur weil man ein neues Paar Schuhe kaufen geht, einen Kaffee auf der Terrasse einer Bar trinkt, Kinder in die Schule gehen, oder man sich ein Theaterstück ansieht.
Die Balearen hatten lange Zeit eine deutlich höhere Inzidenz als Deutschland. Auch hier wurde zwischenzeitlich die Gastronomie geschlossen. Auch hier wurden Einkaufszentren geschlossen. Aber nicht für fast ein halbes Jahr, ohne jegliche Öffnungsperspektive! Die Schulen waren sogar durchgehend geöffnet, ganz egal wie viele Neuansteckungen täglich gemeldet wurden. Sogar ins Kino oder ins Theater dürfen wir. Trotzdem hat man die Ausbreitung des Virus in den Griff bekommen. Woran das liegt? Das weiß wohl nur das Coronavirus selbst…

Das macht die Art und Weise wie diese 50 Schauspieler sich ausgedrückt haben nicht besser. Mit ihren Aussagen würden sie auf jeder Querdenker-Demo tosenden Applaus ernten, wie sie ihn in ihrer Schauspiel-Karriere vielleicht noch nicht erlebt haben. Aber im Kern der Sache haben sie recht: Warum darf in Deutschland nicht über Sinn und Unsinn der Maßnahmen diskutiert werden, ohne dass man sofort zum Aluhut-Träger wird? Warum werden Konzepte von Veranstaltern nicht einmal angehört?
Auf den Balearen besteht das „Konzept“ in Kinos und Theatern darin, dass nur 50% der Plätze besetzt werden dürfen und eine Maskenpflicht herrscht. Das muss nicht mal eine FFP2-Maske sein und ein Test muss auch nicht gemacht werden. Und trotzdem haben wir unsere Inzidenz in den Griff bekommen. Ist Mallorca nun die Insel der Corona-Leugner und Unverantwortlichen? Oder ist vielleicht doch etwas dran an der Behauptung, dass ein Dauer-Lockdown nicht die einzige Möglichkeit ist, die Ausbreitung des Virus in den Griff zu bekommen. Zumal Deutschland schon seit einem halben Jahr zwischen „Wellenbrecher-Shutdown“, „Lockdown light“ und „hartem Lockdown“ – die sich alle nur in Details unterscheiden – hin und her wandert.

Nein, über die Sinnhaftigkeit einzelner Maßnahmen muss diskutiert werden! Wenn Grundrechte eingeschränkt werden, ist es sogar die absolute Pflicht einer Demokratie, jeden Tag aufs neue darüber zu diskutieren. Das ist tatsächlich alternativlos. Anderslautende Meinungen dabei als Verschwörungen oder rechtes Gedankengut abzustempeln, nur weil Querdenker und AFD gleich jedem zujubeln der Kritik äußert, ist genauso billig, wie die zu allgemeine Kritik in den #allesdichtmachen-Videos.

Das ZDF zeigte vor zwei Tagen einen interessanten Beitrag zum Thema Meinungsfreiheit. Dort sprach man mit Menschen, die sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen, weil man mit einer anderslautenden Meinung schnell in die rechte Ecke gedrängt wird. Meiner Ansicht nach liegt das Problem hierbei aber nicht darin, dass es keine Meinungsfreiheit mehr gibt. Man kann und darf in Europa eine ganze Menge eigenartiger Dinge sagen, ohne dafür belangt zu werden. Das Problem liegt vielmehr darin, dass vielen Menschen die Diskussionskultur abhanden gekommen ist. Wir haben verlernt uns zu streiten.

Und da wären wir dann wieder am Anfang dieses Kommentars… Tatort Deutschland. Das Opfer: die Diskussionskultur. Der Mörder: wir alle!
Auf unserer Facebook-Seite beobachten wir dieses Phänomen schon seit längerem. Entweder du bist für etwas, oder du bist dagegen. Wer eine differenzierte Meinung hat, nicht „schwarz“ oder „weiß“ denkt, bekommt von beiden Seiten Contra. Das war schon vor Corona so zu beobachten, ist aber im letzten Jahr noch viel extremer geworden. Aber woher kommt das? Was ist aus dem guten alten „Finde ich grundsätzlich richtig, aber…“ geworden? Warum wird jeder Diskussionsansatz, jedes „aber“, gleich mit einem „Wenn dir meine Meinung nicht passt, musst du sie ja nicht lesen“ abgebügelt? Wollen wir wirklich in einer Welt leben, in der wir nur noch mit uns selber reden? Meinung sagen, weitergehen. „Was andere denken interessiert mich nicht!“ Oder schlimmer noch, den anderen gleich in die rechte Ecke schieben, weil man mit dem Argument ja jede Diskussion gewinnt?
Auf die Verrohung der Ausdrucksweise, möchte ich an dieser Stelle nicht mal eingehen. Das ist nochmal ein ganz eigenes Thema…

Es ist jedenfalls traurig zu sehen, dass dieses Ende der Diskussionskultur sich in der Corona-Pandemie nun auch bis in die Reihen der Menschen mit „Vorbildfunktion“ ausgebreitet hat. Es ist traurig, dass seriöse Schauspieler keine andere Chance mehr sehen, als zu klingen wie die letzten Querdenker, um überhaupt noch gehört zu werden.
Seit Mitte letzten Jahres – und spätestens seit es Antigen-Schnelltests gibt – sind ihre „Aber wir haben da Konzepte“-Rufe ohne ernsthafte Diskussion im Nichts verhallt. Nun haben sie sich angepasst und jegliche Argumentation hinter sich gelassen. Schade. Schade nicht nur, dass sie sich auf dieses Niveau herabbegeben haben. Sondern auch, dass man sie vorher nicht mal ernsthaft angehört hat. Nun ist ihre konstruktive Kritik dahin und übrig bleibt fassungsloses Kopfschütteln.